Reinhard Siemes: Texter und Trinker
„Es gibt Menschen, die rauchen nicht, trinken nicht, essen nur Gemüse und meiden auch sonst jeden Genuss. Zur Strafe werden sie 100 Jahre alt.“ Dieser Satz stammt von Reinhard Siemes. – Und es gibt Menschen, die saufen bis der Arzt kommt und werden immerhin 70 Jahre alt. So wie Reinhard Siemes. Zu seinem 75. Geburtstag erschien posthum sein großartiger Geschichtenband:
Er war genial. Er war grandios. Er war Texter bei DDB und GGK, den ultimativen Kürzeln für kreative Werbung in den 60 er und 70 er Jahren. Damals wurde die beste Reklame der Republik noch in Düsseldorf gemacht. Von der GGK (Gerstner Gredinger Kutter) stammt die Mutter aller Testimonial-Kampagnen:
Das erste von über 3.000 Jägermeister-Motiven zeigt GGK-Agentur-Chef Paul Gredinger.
1976 gründete Reinhard Siemes sein eigenes „Büro für Werbung“ in München. Er versprach:
Extrem teure Werbekonzeptionen für Kunden, die dummes Zeug wollen. Preisgünstige Werbekonzeptionen für Kunden, die den Verbrauchern eine Freude machen möchten.
Eine seiner besten Werbekonzeptionen ist die für den Türklinkenhersteller Franz Schneider aus Brakel (FSB). Bestes „Story Telling“, Jahrzehnte bevor dieser Begriff in Mode kam. Diese Klinkengeschichten im SPIEGEL – Drittelseiten, die Woche für Woche immer an derselben Stelle erschienen – brachten dem Unternehmen FSB den Ruf ein, der Verlag zu sein, der auch Türklinken herstellt. Dazu eine Menge Auszeichnungen. Reinhard Siemes war der Autor.
Reinhard Siemes war der deutsche Meister der Long Copy und der Short Story, der Geschichte, die das Produkt erzählt. Und genau so lesen sich auch die 56 Episoden aus seinem Buch „Mein Todfreund, der Alkohol“: wie die Kurzgeschichten einer Kampagne in eigener Sache.
Der Unterschied: Im „Todfreund“ geht es nicht um Anzeigen für ein neues Vollwaschmittel, sondern um die „Karriere“ eines waschechten Vollalkoholikers. Und die begann bereits 1963 in einem Düsseldorfer Reklamebüro. Siemes, in Wuppertal geboren und in Schwelm aufgewachsen, hatte in Berlin an der Meisterschule für Grafik, Druck und Werbung (später Hochschule der Künste) studiert. Die Persil-Agentur von Hubert Troost war seine erste Station als Texter. Hier verfasste Siemes (23) nicht nur seine ersten Reklamesprüche – in den „Ritterstuben“ nebenan lernte er auch seinen späteren Todfreund kennen: den Alkohol.
Die Folge meiner Erfolge war, dass ich bereits nach einem Monat unter einem selbst erzeugten Leidensdruck stand. (…) Nach zwei Gläsern Bier war ich geheilt von Krampf und Spannung.
Und als ihm zum neuen Henkel-Allzweckreiniger nichts mehr einfällt:
Ich machte einen letzten Versuch, indem ich gar nicht erst zurück in die Agentur ging, sondern fünf Biere lang sitzen blieb. Dann nahm ich meinen Stift und schrieb auf das Blatt den besoffenen Zweizeiler: „Mit CLIN wird alles sauber wie durch einen Zauber.“
Gekauft!
Der selbst auferlegte Leistungsdruck und die existentielle Angst vor dem Versagen begleiten Reinhard Siemes von nun an sein Leben lang. Kreative Höhenflüge wechseln sich ab mit katastrophalen Abstürzen. „Trockene“ Phasen enden schließlich im lebensbedrohlichen Delirium.
Sehr viel später, im Jahr 2009, ziemlich genau zwei Jahre vor seinem Tod, schreibt Reinhard Siemes einen überaus lesenswerten Artikel zum Thema „Süchte“ in der TAZ, der sich wie das Exposé zu seinem Buch liest:
Alle Süchte haben eins gemeinsam. Sie sind Flucht aus der Realität. (…) Entscheidend ist allein die Lebenssituation, in der wir uns befinden. Ist sie geprägt von Ängsten, Überforderung oder Hoffnungslosigkeit, erinnern wir uns an Momente, in denen die Realität und somit alle Probleme zurückgedrängt wurden. (…) Demzufolge sind alle Fluchtwege aus der Wirklichkeit zugleich Wege in eine Sucht. (…) Welche Sucht wir wählen, hängt wiederum von unserer Lebenssituation und der Art der Belastungen ab. Gegen Ängste, Stress und Hoffnungslosigkeit wirken am besten Alkohol und Tabletten.
Am liebsten in der Reihenfolge. Gegen ein Delirium tremens wird das Psychopharmakon Distraneurin Siemes’ Mittel der Wahl. Seine zweite Abhängigkeit.
Was „Mein Todfreund, der Alkohol“ von vielen Betroffenen-Biografien unterscheidet, ist vor allem Siemes’ Schreibkunst, die ohne jede Wehleidigkeit und Selbstgefälligkeit auskommt, dafür mit hinreißendem Humor und beißender Ironie aufwartet. Vor allem gegen die selbsternannten Retter der Alkoholiker. Von co-abhängigen Partnerinnen über klugscheißende Klinikärzte bis zu den Moralaposteln der Anonymen Alkoholiker. Aber sein Buch ist auch ein gutes Stück deutscher Werbegeschichte – von GGK bis ADC, von IBM bis FSB. Und von einzigartigen Kollegen und kleinkarierten Neidern, wie sie in derart großer Zahl und Ausprägung in wohl kaum einer anderen Branche vorkommen.
Siemes selbst war von 1984-86 Präsident des Art Directors Club (ADC) und wurde 2010 Ehrenmitglied für sein Lebenswerk – in einer Reihe mit Prominenten wie Vico von Bülow, Helmut Newton, Peter Lindbergh, Rudolf Augstein, Robert Gernhardt oder Christoph Schlingensief und Werbe-Ikonen wie Paul Gredinger, Helmut Krone, Walter Lürzer, Konstantin Jacoby, Michael Schirner oder Jean-Remy von Matt.
Faustische Dialoge
Reinhard Siemes war aber nicht nur ein ausgezeichneter Reklametexter, sondern auch eine herausragender Kolumnist, u.a. für den Berliner Tagesspiegel. Dessen Herausgeber Sebastian Turner, als Chef der Werbeagentur Scholz & Friends u.a. für die Wiederbelebung der FAZ-Kampagne „Dahinter steckt immer ein kluger Kopf“ sowie den Baden-Württemberg-Slogan „Wir können alles außer Hochdeutsch“ verantwortlich, kümmerte sich um das Buch-Manuskript von Reinhard Siemes, das er seiner langjährigen Lebensgefährtin, der Slowenin Ika Bratuscha, hinterlassen hatte, die auch das Buch-Cover gestaltete und die Fotos beisteuerte. Dem geschätzten Stuttgarter Verlag avedition ist seine Veröffentlichung zu danken.
Die Kapitel sind nicht chronologisch geordnet, sondern springen zwischen den Zeiten (von 1960 bis 2010) immer wieder hin und her. Eine gelungene dramaturgische Idee, die das Buch noch abwechslungsreicher macht. Ebenso wie die „faustischen“ Dialoge zwischen Siemes und seinem Todfreund, der am Ende natürlich niemand anders ist als er selbst. „Seine“ (von Ika Bratuscha verfasste) letzte Anzeige erschien in der Süddeutschen Zeitung:
45 Mercy Street: Anne Sexton.
Durch „New Blood“ von Peter Gabriel bin ich auf Anne Sexton gestoßen, die ich ohne dieses Album wohl nie kennengelernt hätte. Dabei war ich der Frau schon auf „So“ begegnet …
Mein ewiger Lieblingssong von Peter Gabriel stammt von diesem großartigen Album aus dem Jahr 1984: „Mercy Street“. Aber erst jetzt, bei der Wiederveröffentlichung von „Mercy Street“ auf „New Blood“, mache ich mir die Mühe, die Lyrics im Internet aufzurufen. Ein wunderbarer Text:
Looking down on empty streets, all she can see
Are the dreams all made solid
Are the dreams made real
All of the buildings, all of those cars
Were once just a dream
In somebody´s head
„She“, das war keine fiktive Person, von der sich Peter Gabriel inspirieren ließ, sondern eine amerikanische Dichterin, der er seinen Song widmete. „For Anne Sexton“, ein kurzer Hinweis am Anfang des Textes. Ich folge ihm. Und finde eine faszinierende Frau.
Anne Gray Harvey wird am 9. November 1928 in Newton, Massachusetts, einem Vorort von Boston geboren. Sie besucht eine Mädchen-Internat in Boston. Hier schreibt sie ihre ersten Gedichte. Nach dem College arbeitet sie als Model, brennt mit „Kayo“ durch, dem Sohn einer wohlhabenden Bostoner Familie (bürgerlich Alfred Muller Sexton II.), heiratet ihn und bekommt zwei Töchter. 1956, ein Jahr nach der Geburt ihrer zweiten Tochter, ist sie das erste Mal in der Psychiatrie; einen Tag vor ihrem 29. Geburtstag unternimmt sie ihren ersten Selbstmordversuch.
Nowhere in the corridors of pale green and grey
Nowhere in the suburbs in the cold light of day
There in the midst of it so alive and alone
Words support like bone
Ihr Therapeut Dr. Martin Orne ermutigt die depressive Dichterin zum Schreiben und 1960 erscheint Anne Sextons erstes Buch „To Bedlam and Part Way Back“. Sie besucht das Bostoner Lyrikseminar von Robert Lowell und lernt Sylvia Plath kennen. Beide gehören zu einer literarischen Richtung, die sich „Confessional Poets“ nennt und sehr (für manche all zu sehr) persönliche Themen literarisch verarbeitet. Einigen Kritikern ist diese Bekenntnisliteratur viel zu privat, zu persönlich, zu intim. Anne Sexton versteht ihre Gedichte in Anlehnung an Franz Kafka hingegen als „eine Axt für das gefrorene Meer in uns“.
Dreaming of mercy street, wear your inside out
Dreaming of mercy in your daddy´s arms again
Dreaming of mercy street swear they moved that sign
Dreaming of mercy in your daddy´s arms
Der Verdacht auf sexuellen Missbrauch durch ihren geliebten Vater gilt als Ursache für Anne Sextons seelisches Leiden, das sie über das Schreiben kompensiert.
Confessing all the secret things in the warm velvet box
To the priest – he´s the doctor, he can handle the shocks
In der deutschsprachigen Literatur verkörpert Ingeborg Bachmann in den 60er Jahren diesen Typus der frühen Feministin, die noch ohne die Spießigkeit der späteren Emanzipationsbewegung auskommt. In Europa weitgehend unbeachtet wird Anne Sexton in den U.S.A. ein Star. 1967 erhält sie den begehrten Pulitzer-Preis für ihren Gedichtband „Live or die“. Die Todessehnsucht bleibt ihr immer wiederkehrendes poetisches Motiv.
Während alle bisherigen Zitate aus dem Song „Mercy Street“ von Peter Gabriel stammen, ist der nun folgende Text ein Auszug aus dem Gedicht von Anne Sexton, das Peter Gabriel als Vorlage für seinen Song diente: „45 Mercy Street“.
I walk in a yellow dress
and a white pocketbook stuffed with cigarettes,
enough pills, my wallet, my keys,
and being twenty-eight, or is it forty-five?
I walk. I walk.
I hold matches at street signs
for it is dark,
as dark as the leathery dead
and I have lost my green Ford,
my house in the suburbs,
two little kids
sucked up like pollen by the bee in me
and a husband
who has wiped off his eyes
in order not to see my inside out
and I am walking and looking
and this is no dream
just my oily life
where the people are alibis
and the street is unfindable for an
entire lifetime.
Der Titel eines ihrer letzten Bücher lautet „The awful rowing toward god“. Mitte 40 wendet sich Anne Sexton auf eine merkwürdige Weise Gott zu. Vater -> Gott -> Gott Vater. Peter Gabriel verarbeitet in seinem Song auch diese letzte Phase im Leben von Anne Sexton:
Let´s take the boat out, wait until darkness
Let´s take the boat out, wait until darkness comes
Anne, with her father ist out in the boat
Riding the water, rinding the waves on the sea.
Am 4. Oktober 1974 fährt Anne Sexton ihren Wagen in die Garage, schließt das Tor und lässt den Motor laufen. Sie trägt den Pelzmantel ihrer Mutter. Es ist ihr fünfter Selbstmordversuch. Er gelingt.
Vaterloser Muttersohn.
Nein, er schläft nicht mit seiner Kopfbedeckung. Nachts setzt er den Hut ab, zieht auch die Mütze vom Kopf. Nein, dieses „Markenzeichen“ von Gregory Porter hat keine weitere Bedeutung als einfach nur eine Kopfbedeckung zu sein. Dennoch wird sie, weil unübersehbar, gerne als Aufhänger genutzt – so auch in diesem Beitrag. Dabei sollte Gregory Porters Markenzeichen eigentlich seine Stimme sein.
Seit Marvin Gaye, Bill Withers und Lou Rawls zusammen hat man eine solche Soul-Stimme nicht mehr gehört. Aber auch das stimmt nur zur Hälfte, denn Gregory Porter ist eigentlich kein Soul-, sondern ein Jazz-Sänger, gesegnet mit einer unglaublichen Soul-Stimme. Porter ist gegenwärtig der wohl beste Jazz-Sänger der Welt. Und weil er eine so begnadete Soul-Stimme hat, öffnet er den Jazz auch für Menschen, die sonst eher wenig damit anfangen können.
Wem diese ohnehin künstlichen Genre-Grenzen schnurz sind, der findet sehr schnell einen Zugang zu dem Sänger, dessen Bariton einem schlicht die Sprache verschlägt und die Seele zum Klingen bringt. Das Fachmagazin „Jazzthing“ schwärmte von der „schönsten Stimme des Jazz“.
Warum Gregory Porter erst mit 40 Jahren der Durchbruch gelang, nachdem er fast sein halbes Leben als Sänger unterwegs war, bleibt ein Rätsel. Dafür gilt er seit seinem Debütalbum „Water“ (2009), das ebenso für den Grammy nominiert wurde wie der Nachfolger „Be good“ (2011), als Shooting Star der Jazz-Szene.
10 von 12 Songs auf „Be good“ stammen aus seiner eigenen Feder, viele von ihnen klingen jetzt schon wie ewige Jazz-Klassiker. Gleichzeitig kann es „Be good“ mit dem wohl besten Soul-Album aller Zeiten, Marvin Gaye’s „What’s going on“, aufnehmen.
Dass Gregory Porter nur deshalb Sänger wurde, weil er aufgrund einer Schulterverletzung seine Football-Karriere beenden musste, wird gerne verbreitet. Ob es tastsächlich dazu gekommen wäre, ist eine andere Frage. Der Mann, der aussieht wie ein Preisboxer, wirkt als Sänger so sensibel als könne er keiner Fliege etwas zu leide tun.
Das Titelstück „Be good“ mit dem Untertitel „Lion’s Song“ klingt deshalb auch wie eine Parabel auf die äußere Erscheinung Porters. Der Song verarbeitet (was sonst) eine unglückliche Liebe:
she said lions are made for cages
just to look at in delight
you dare not let’em walk around
‚cause they might just bite(…)
does she know what she does
when she dances around my cage and says her name
be good be good
be good is her name.
Seit diesem wunderbaren Song, der zwischen langsamem Walzer und freier Improvisation pendelt, ist „Lion“ Porters zweiter Vorname geworden.
Er wuchs vaterlos auf, zuerst in Los Angeles, später im nördlicheren Bakersfield, das einst die inneramerikanische Country-Konkurrenz zu Nashville war. Schon der kleine Gregory sang Gospels in der Baptisten-Kirche, in der seine Mutter predigte. „I was a mama’s boy and it pleased my mother.“
Seine Mutter liebte Nat King Cole und ihr Sohn stellte sich vor, dass Nat sein Vater wäre. Als Jugendlicher sah Gregory mit Begeisterung den „Soul Train“, die legendäre Samstag-Nachmittag-Musiksendung des Moderators Don Cornelius auf WGN-TV, in der sämtliche Größen afroamerikanischer Musik auftraten.
„Sing, Baby, sing“, sagte ihm seine Mutter auf dem Sterbebett (Gregory war gerade 21) und er betrachtete es als ihr Vermächtnis.
Der Komponist, Musiker und Dozent Kamau Kenyatta, der fast 20 Jahre später auch Porters erstes Album „Water“ produzierte, brachte ihn zum Jazz. Porter hatte ein Stipendium an San Diego University und kam durch Kenyatta auch in Kontakt mit einigen Jazz-Größen, die ihn inspirierten. Der Sänger war so naiv zu glauben, dass er selbst auch schon irgendwann entdeckt werden würde. Aber daraus wurde vorerst nichts.
Porter wechselte ans Theater, ging nach New York und gehörte 1999 sogar zum Broadway-Ensemble des Musicals „It Ain’t Nothin‘ But the Blues“, das es immerhin auf 284 Aufführungen und eine Nominierung zum begehrten Musical-Award „Tony“ brachte.
„Man, your father was a great singer“
2004 schrieb Porter sein eigenes Musical: „Nat King Cole and me“ – über den „Vater, Held und Freund, den ich mir immer gewünscht habe“. Es errang einen Achtungserfolg in Denver, aber künstlerisch und musikalisch war Porter auch ein Gefangener in dieser imaginären Vater-Sohn-Beziehung. Die Stimme seines leiblichen Vaters, der die Familie sitzen ließ und als Anstreicher umherzog, kannte Gregory nur von alten Tonbandaufnahmen. „Man, your father was a great singer“, war ein schwacher Trost bei dessen Beerdigung.
Erst als Porter sich entschloss, ganz nach New York zu gehen und dort im legendären Jazz-Club „St. Nick’s Pub“ in Sugar Hill, Harlem auftrat, nahm seine Karriere ihren Lauf. Viele Stücke seines ersten Albums „Water“ entwickelten sich hier. Allen voran „1960 – What“, ein mitreißender Song über die großen Rassenunruhen in der Autostadt Detroit im Jahr 1967.
Porter erhielt einen Vertrag bei dem Harlem-Jazz-Label „Motéma“, bei dem auch sein zweites Album „Be good“ erschien. Nach seiner leiblichen Mutter wurde nun Jana Herzen, die Gründerin von „Motéma“, die Mutter seines Erfolgs. (Motéma ist Lingála, kongolesische Nationalsprache, und bedeutet „Herz“.) Produziert wurde „Be Good“ wie auch das Album „Liquid Spirit“ von Brian Bacchus, der schon Norah Jones zum Erfolg verhalf; Gregory Porters’ musikalischer Ziehvater Kamau Kenyatta ist weiter als Co-Produzent und Arrangeur dabei.
„Liquid Spirit“ klingt noch professioneller als die ersten beiden Alben, erreicht aber nicht die besondere Stimmung des Jahrhundertalbums „Be good“. Einige der neuen Stück wie „Hey Laura“ oder „Wind Song“ haben sogar Hit-Potenzial. Heute wohnt der Jazz-Sänger mit der Soul-Stimme im Künstlerviertel Bedford–Stuyvesant (kurz „Bed-Stuy“) in Brooklyn, das früher einmal das „Little Harlem“ von New York genannt wurde, und in dem Musiker wie Jay-Z oder Norah Jones groß geworden sind. In seinem mitreißenden Up-Tempo-Stück „On my way to Harlem“, das ihm in der A-Line auf seinem Weg von Brooklyn nach Harlem eingefallen ist, singt Porter vom Nachhall der großartigen Musiker, die New Yorks schwarzer Stadtteil hervorgebracht hat. Seine eigenen Chancen, selbst eines Tages zur Jazz-Hall of Fame zu gehören, stehen allerdings auch nicht schlecht.
Gregory Porters Markenzeichen, seine Kopfbedeckung, wird aber ganz sicher wieder mit von der Partie sein.
Mainstream auf dem Meer.
Prolog
Alles fing alles damit an, dass ich meiner Frau zum Valentinstag eine Freude machen wollte und sie ins Kino einlud. Wir sahen uns die Verfilmung von „Ich bin dann mal weg“ an. Kaum aus dem Kino raus, sagte meine Frau: „Das machen wir auch.“ Den Jakobsweg gehen, meinte sie. Mein Vorschlag, die Rolle des Ehemanns im Film zu übernehmen, der direkt nach Compostella fliegt und dort auf der Kirchentreppe auf seine Frau wartet, während sie den ganzen Weg zu Fuß läuft, fruchtete nicht.
Aber plötzlich gab es eine Alternative: „Dann machen wir eben eine Kreuzfahrt in der Karibik.“ Das nenne ich mir weibliche Logik! „Wieso denn jetzt auf einmal Karibik?“ – „Weil wir immer schon eine Kreuzfahrt machen wollten.“ Ach so!
Vorfreude
Vier Jahre hatte ich mich erfolgreich dagegen gewährt, eingepfercht in diesen Plattenbauten auf See über eins der Sieben Meere schippern zu müssen. Und noch länger war es mir gelungen, die mörderische Hitze und Luftfeuchtigkeit der Karibik zu meiden. Meine Argumente – angefangen von „dort gibt es immer noch Piraten“ bis hin zu „ich möchte nicht im Bermuda-Dreieck verschollen sein“ – wussten auch nicht recht zu überzeugen. (Zumal die Bermuda-Inseln nicht in der Karibik, sondern viel weiter nordöstlich liegen.)
Plattenbauten auf See: Kreuzfahrtschiff im Hafen von Roseau, Dominica
Hans Peter Kerkeling war also schuld, dass es „Mein Schiff 5“ wurde. Immerhin nicht die AIDA, von der ich wahre Horrorgeschichten gehört hatte. Da auf der AIDA nicht alles „all inclusive“ war, sollen sich dort zu Essenszeiten tumultartige Szenen in den Buffet-Restaurants abspielen, da eben nur zu Essenszeiten auch die Tischgetränke „all inclusive“ sind. – „Mein Schiff 5“, die bessere (und vor allem teurere) Variante des modernen Kreuzfahrtschiffes wirbt damit, dass hier nun wirklich alles „all inclusive“ sei. Dass auch das nicht die ganze Wahrheit ist, wird gerne verschwiegen.
Mit dem Flugzeug von Köln/Bonn nach La Romana in der Dominikanischen Republik. Und dann weiter an Bord auf große Reise zu den Kleinen Antillen. Mein Gott, wo liegen die noch mal? Grenzt „Dom-Rep“ nicht direkt an Kuba? Falsch! Es grenzt an Haiti! Kuba ist die Insel links daneben. Wie bitte? Liegt Haiti nicht im Pazifik? Falsch, das ist Tahiti! Meine bescheidenen geografischen Kenntnisse geboten mir mehr Demut. Und Dankbarkeit! Denn wir bekamen noch eine Balkonkabine. Auf Deck 9, zum Bug hin. (Das ist vorne beim Schiff.)
Backbord oder Steuerbord? Der Mitarbeiter des Reisebüros stand von seinem Platz auf und stellte sich so hin, wie das Schiff wahrscheinlich fahren würde, seine Nase war der Bug, sein Hintern das Heck, um herauszufinden, welche der beiden Seiten die bessere wäre. „Also, ich bin jetzt das Schiff und wir fahren gerade von La Romana nach Dominica“ (die ich bis dahin nicht für eine karibische Insel, sondern für eine Hamburger Domina gehalten hatte). „Dann müssten Sie die Kabine auf der Steuerbordseite buchen. Dann sind Sie praktisch immer auf der Sonnenseite.“ – „Ich liege lieber im Schatten.“
Es kam natürlich ganz anders, weil das Schiff – ganz im Wortsinn – kreuz und quer durch die Karibik fährt, d.h. mal so oder auch mal andersherum. Ob Steuerbord oder Backbord, ist also gehupft wie gesprungen. Die alte Regel, dass ein Schiff im Hafen immer an der Backbordseite anlegt, gilt offenbar nicht mehr. Jedenfalls nicht für Kreuzfahrtschiffe.
Zug zum Flug
Um überflüssiges Gepäck zu sparen, mitten im November so gekleidet als würde man in den Sommerurlaub starten. Um uns herum, und dem kalten Herbstwetter entsprechend angemessen angezogen, lauter normale Menschen, die ihrer geregelten Arbeit an einem trüben Novembermorgen nachgehen. Auf dem Bahnhof Köln-Deutz („dieser Zug hält heute nicht in Köln Hbf“) irren zwei orientierungslose Touristen, bepackt mit viel zu großen Koffern auf viel zu kleinen Rollen, ziellos umher und suchen den S-Bahnsteig zum Flughafen Köln/Bonn.
Flüchtlinge? Asylsuchende? Bonner Beamte auf dem Weg nach Berlin? Nein, Kreuzfahrer auf dem Weg in die Karibik!
Der Flughafen Köln/Bonn zählt nicht unbedingt zu den schönsten Flughäfen Deutschlands. Auch nicht zu den neuesten. Dass es in Köln, anders als in Düsseldorf, aber nicht einmal zu einem eigenen Flughafen gereicht hat, gehört zu den tiefsitzenden Stacheln in der immerwährenden Lokalrivalität mit der nordrheinwestfälischen Landeshauptstadt. Aber dafür ist man hier in Köln/Bonn auch schlechter organisiert!
„La Romana oder Phuket?“, ruft eine Reiseleiterin, „hier entlang!“. Das fehlte noch! Aus Versehen in der falschen Reihe anstehen und dann im Bumsbomber nach Südostasien landen, während die gesamte Sommergarderobe auf dem Weg nach Westindien ist. Da hat sich schon mal einer vertan!
Dann der erste Schock im Wartebereich vom Gate: Sind diese Fluggäste etwa die Passagiere, die eine Karibik-Kreuzfahrt gebucht haben?! Ich hatte lauter Hochbetagte und Gutbetuchte erwartet. Stattdessen finde ich mich auf einem Tattoo-Treffen Marke Camp David wieder. Noch dazu mit sächsischem Akzent!
Tattoo-Treffen Marke Camp David: Passagiere an Bord der „Mein Schiff 5“
„Bist Du sicher, dass das der richtige Flieger ist?“
Wer öfter fliegt oder wenigstens diesen Eindruck erwecken möchte, sagt nicht mehr Flugzeug sondern Flieger. Man sagt auch nicht „ich fliege …“ (zum Beispiel nach Phuket), sondern „ich gehe …“. Das ist internationales Deutsch. So wie „Destination“. – „Und welche Destination gehen Sie?“ „Ich gehe nach Dom-Rep.“… ist folglich bestes Flieger-Deutsch!
Im Flieger
Wir gehen nach La Romana und sitzen im Flieger auf der rechten Seite. Also praktisch Steuerbord. Das hat der Reisebüromitarbeiter für uns so reserviert. Die Morgensonne scheint mir direkt ins Gesicht. Meine Frau am Fenster, ich zum Gang, damit ich meine langen Beine ausstrecken kann. Allerdings wäre ich heute Invalide, wenn ich sie wirklich ausgestreckt hätte, so oft wäre der schwule Steward mit seinem Wagen darübergefahren. Ja, der Steward ist schwul. Ganz so wie im Klischee. Ich betone das nicht, weil ich etwas dagegen hätte (schließlich sind wir in Köln gestartet), sondern weil der Steward es selbst demonstrativ zur Schau trägt. Sehr amüsant.
Anders als die Filme an Bord.
Nein, nicht schon wieder Schweighöfer! Gibt es denn keinen deutschen Film mehr ohne Schweighöfer? Dann eben George Clooney als „Money Maker“. Wirklich gut, wirklich spannend. Man glaubt bei George Clooney ja immer noch, er sei nur der bestaussehendste Mann der Welt, aber er ist auch ein wirklich guter Schauspieler. Das wird oft unterschätzt. So wie Schweighöfer immer überschätzt wird.
10 Stunden im Flieger sind kein Zuckerschlecken. Vor allem nicht bei dem Essen. Man glaubt es nicht, aber es geht immer noch schlechter und es gibt immer noch weniger. Und natürlich ist an Bord des Fliegers fast alles nicht „all inclusive“. Außer Tomatensaft. Den trinke ich immer nur im Flieger. Auf dem Erdboden würde ich niemals auf die Idee kommen, Tomatensaft zu trinken. Hat das eigentlich schon mal jemand erforscht – dieses Tomatensaft-Bedürfnis an Bord eines Fliegers?
Und noch jedes Mal nehme ich mir vor, beim nächsten längeren Flug (wenn ich zum Beispiel in die USA gehe), einen besseren Platz mit mehr Beinfreiheit zu buchen. Leider bin ich kein Vielflieger und vergesslich. Ein Psychologe würde sicher herausfinden, dass ich mir den Aufpreis im Unterbewusstsein selbst nicht gönne und mich mit diesen Thrombose-Sitzen womöglich selbst bestrafen möchte. Aber solche negativen Gedanken können auch mit den plötzlichen Turbulenzen in 11.000 Metern Höhe mitten über dem Atlantik zu tun haben, denn wir gehen zwar nicht auf die Bermuda-Inseln, überfliegen aber gerade das gleichnamige Dreieck.
Hochbetagte und Gutbetuchte? Kreuzfahrer beim Landgang.
Mehr Angst als vor dem Fliegen habe ich allerdings vor den Reisenden auf Kreuzfahrtschiffen. Noch dazu, wenn sie so aussehen wie die Passagiere hier im Flieger. Aber das sind bestimmt nur die typischen Dom-Rep-Urlauber aus Meck-Pom. Die steigen aus und gehen an ihre Strände oder gleich an die Strand-Bar. Und am Flughafen treffen wir dann auf die wahren Kreuzfahrer: Hochbetagte und Gutbetuchte. Die sind mit der Lufthansa in die Karibik gegangen und nicht wie wir mit der Lufthansa für Arme (Eurowings).
Sind sie nicht.
In La Romana angekommen stellt sich heraus, dass sämtliche Passagiere des Eurowings-Fluges in die bereit gestellten Busse wechseln, die uns aufs direkt auf „Mein Schiff 5“ bringen.
An Bord
Mit dem Einchecken beginnt eine andere Welt. Plötzlich sind alle freundlich und gut gelaunt. Ab jetzt gibt es immer und überall etwas zu trinken. Außer Tomatensaft. Es geht gleich an Deck, die Koffer werden bis vor die Kabinentür gebracht. Man öffnet die Kabinentür … der Moment, der einen ganzen Urlaub versauen kann … und ist erfreut. Größer als gedacht. Selbst der Balkon. Und über Geschmack lässt sich bekanntlich streiten, vor allem wenn er maritim ist. Willkommen an Bord! Wenn man schon eine Kreuzfahrt machen muss, dann niemals ohne Balkonkabine! (Es gibt übrigens tatsächlich Reisende, die sich über den fehlenden Balkon in ihrer Innenkabine beschweren.)
Reisende, die sich über den fehlenden Balkon in ihrer Innenkabine beschweren.
Erst jetzt, auf dem Balkon der Balkonkabine wird mir die Hitze so richtig bewusst. Tropische, feuchte Hitze, die uns die nächsten 14 Tage begleiten wird. Aber zum Glück sind die Kabinen ja klimatisiert. Man hört das spätestens nach einer Woche am röchelnden Husten der meisten Mitreisenden.
Das Schönste an einer Kreuzfahrt durch die Karibik, um das gleich vorwegzunehmen, ist das Rauschen der Wellen in der Nacht, wenn das Schiff auf hoher See unterwegs ist zum nächsten Hafen. Wenn man allein ist mit seiner Liebsten in der Balkonkabine oder auf dem Balkon der Kabine.
Es ist nicht unbedingt kühler als tagsüber, aber der Wind weht und man kann die Balkontür offenstehen lassen. (Die Klimaanlage ist dann ausgeschaltet.) Allein für das Rauschen der Wellen in der Nacht hat sich die Reise gelohnt. Man kann das vielleicht auch billiger haben. Aber hätte man es allein dafür auch gebucht?
Nachts auf die Reling gelehnt dem Meer beim Wellenmachen zuschauen.
Homo Faber. Die Überfahrt von New York nach Europa. So habe ich mir eine Schiffsfahrt immer vorgestellt. Deck-Chairs aus Teakholz. Gepflegte lange Weile. 7 Tage lang. Nichts als Meer. Stundenlang liegen und lesen. Wenn es kälter wird, eingehüllt in warme Decken. Scheint die Sonne, einen Borsalino auf dem Kopf in angeregter Konversation mit unaufdringlichen Gästen. Manchmal hoher Wellengang, schwankend durch Kabinengänge torkeln. Dann wieder ruhige See und endloser Horizont. Abends in angemessener Garderobe zum Dinner. (Camp David-Verbot!)
Leute fotografieren, die Sonnenuntergänge fotografieren.
Carribean Sunset. Noch schöner als die Sonnenuntergänge sind nur die Sonnenaufgänge, bevor die Sonne beginnt, ihre brütende Hitze über das Land auszubreiten. Selbst bei stärkerer Bewölkung setzt sie sich morgens fast immer durch. Manchmal nur für Momente. Und liefert jeden Tag die besten Motive für die Kamera. Statt Sonnenuntergänge zu fotografieren, fotografiere ich abends lieber heimlich die Leute, die Sonnenuntergänge fotografieren.
Seetag
„Mein Schiff 5“ bietet Raum für 2.500 Gäste. An Seetagen drängen sie sich an Deck in hunderten Liegestühlen, die auch hier schon frühmorgens mit Handtüchern und anderen Bade-Utensilien belegt werden. Im Kampf um die besten Plätze an der Sonne (und die manchmal noch besseren im Schatten) muss schließlich jeder sehen, wo er bleibt. Kreuzfahrt ist praktizierte Ich-AG auf See.
„Mein Schiff 5“ ist das größte Kreuzfahrtschiff der TUI-Flotte. Man hat erkannt, dass ab einer bestimmten Schiffsgröße die Kosten nicht mehr proportional zum Aufwand steigen. Ein Schiff mit doppelt so vielen Gästen an Bord bedeutet nicht zwangsläufig doppelte Kosten. Es lohnt sich also, immer größere Schiffe zu bauen. Die großen amerikanischen Schiffe beherbergen bis zu 4.500 Menschen. Wie weit man diese Dimensionen noch ausreizen kann, hängt – außer von den nautischen Gegebenheiten – nur von der Investitionsbereitschaft der Reeder ab. Und natürlich vom Markt. Aber der Markt brummt.
Restaurants auf „Mein Schiff 5“: Unten Klassik, oben Mediterran.
Die Demokratisierung, besser „Discountisierung“ auch dieser Urlaubsform, die früher tatsächlich nur den Hochbetagten und Gutbetuchten vorbehalten war, schreitet ebenso voran wie bei jedem anderen Tourismus-Trend. TV-Serien wie „Traumschiff“ oder die amerikanische Vorlage „Love Boat“ haben den Boden bereitet. Oder um im Bild zu bleiben: die Welle ausgelöst.
Und so erklärt sich schließlich auch das Publikum auf „Mein Schiff 5“. Das Zauberwort heißt „all inclusive“. Hier wird knallhart gerechnet. Egal, ob die Reise vom Mund abgespart ist oder ein Urlaub unter vielen ist.
Dabei verhält es sich wie mit allen Verpackungen heute: Es ist nie genau das drin, was draufsteht. Auch auf „Mein Schiff 5“ gibt es eine Zwei-Klassen-Gesellschaft. Es gibt die Suiten mit eigenem Deck, zu denen uns gewöhnlichen Reisenden der Zutritt verwehrt bleibt. Es gibt die Restaurants, in denen man draufzahlt und das nicht zu knapp. Und es gibt die Getränke, die nicht „all inclusive“ sind. Morgens laufen die Kellner an den Tischen vorbei und bieten frisch gepressten Organsaft oder Champagner gegen Aufpreis an. Das nervt bzw. ist mir, stellvertretend für die armen Kellner, einfach nur peinlich. Bei den Getränken wirkt die Zwei-Klassen-Gesellschaft auf „Mein Schiff 5“ allerdings am lächerlichsten, denn bis auf wenige Ausnahmen ist an fast jeder Bar zu fast jeder Zeit fast alles „all inclusive“. Und das Essen in den „all inclusive“ Restaurants ist sogar sehr gut – vor allem, wenn man bedenkt, was hier logistisch geleistet werden muss, wenn hunderte Gäste gelichzeitig bedient und beköstigt werden müssen.
Überhaupt die Mitarbeiter! Allesamt sehr freundlich und das wirkt nicht einmal aufgesetzt oder eintrainiert. Mitarbeiter aus über 40 Nationen scherzen munter miteinander, denn hier sitzen sie buchstäblich alle in einem Boot, auch wenn sie keine Flüchtlinge sind.
Inseln über dem Wind
Und die Reise selbst? Fast jeden Tag ein anderer Hafen. In Dominica ein winziger Anleger für kleine Fischerboote, an dem jetzt das riesengroße Flagschiff der TUI-Flotte liegt. In anderen, etwas größeren Häfen ein einziges Gedränge mit anderen Kreuzfahrtschiffen. Wer zuerst kommt mahlt zuerst. „Mein Schiff 5“ macht nachts richtig Knoten, damit wir morgens die ersten im nächsten Hafen sind und den besten Anlegeplatz erwischen.
Zuerst die „Inseln über dem Wind“, ich nenne sie Regenwald-Inseln, weil ihre Vegetation so üppig ist und die Farben so satt sind. (Im Gegensatz zur Bevölkerung.) Wieder schäme ich mich. Dieses Mal für die Kreuzfahrer, die die Hafenstädte überschwemmen. Camp David beim Landgang auf Guadeloupe und Martinique. Camp David unterwegs auf St. Lucia und Grenada. Ich gehöre dazu, fühle mich aber nicht zugehörig. Man sagt, dass der Kreuzfahrt-Boom die Inseln nicht reicher macht. Im Gegenteil. Die Leute kommen und gehen, gaffen und haken ab. Nächste Insel! Warum 14 Tage auf einer einzigen Insel bleiben, wenn ich dafür noch 10 weitere haben kann?
Manchmal eine Muskatnussfabrik.
Tagsüber Programm. Besuch der wichtigsten Inselattraktionen: manchmal ein gesundes Schwefelbad, manchmal ein traumhafter Strand, manchmal eine Muskatnussfabrik. Abgehakt! Lustige Busse, karibische Klänge, schnelle Boote, überdrehte Lautsprecher. Wer sich selbst und anderen etwas beweisen muss, wählt die organisierten Fahrradtouren mit Lunch-Paket (nicht „all inclusive“) und quält sich in tropischer Hitze. Abends dann wieder frisch geduscht im Gala-Outfit (oder was die Leute dafür halten) in einem der Bordrestaurants. Bei Tisch werden die Abenteuer des Tages ausgetauscht. Wahlweise die Reiseziele der letzten 100 Jahre. „Wo waren wir noch gewesen. Was haben wir noch gemacht gehabt.“ Zum Glück findet man auf „Mein Schiff 5“ auch Tische zu zweit, hat seine Ruhe und wird zuvorkommend bedient. Überhaupt ist alles auf dem Schiff wirklich sehr angenehm. Wenn nur die Gäste nicht wären.
Inseln unter dem Wind
Dann noch die ABC-Inseln: Niederländische Antillen. In umgekehrter Reihenfolge: Curaçao, Bonaire, Antigua. Hier ist es nicht so feucht, aber dafür umso heißer. In Curaçao gehen wir noch von Bord und besuchen bei brütender Hitze – den Weihnachtsmarkt (inzwischen ist es Anfang Dezember); in Bonaire und Antigua bleiben wir gleich an Bord und genießen tagsüber handtuchleere Liegestühle und menschenleeres Bordleben. Wir sind übersättigt.
Handtuchleere Liegestühle und menschenleeres Bordleben.
Kreuzfahrten sind anstrengend. Sie haben etwas von Vergnügungsparks, in denen eine Attraktion die nächste jagt … und jede folgende die vorherige noch einmal toppt. Volles Programm! Immer was los. Wer das will, ist hier genau richtig. Statt von Hotel zu Hotel zu reisen, reist das Hotel einfach mit. Kein Ein- und Auspacken, keine mühseligen Fahrten oder Flüge. Jeden Tag ein neuer Hafen, ein neuer Ort, ein neues Land. Der Nachteil: Man kommt nirgendwo richtig an. Die Seele reist nach, sagen die Indianer. Bei einer Kreuzfahrt bleibt sie irgendwo auf der Strecke.
Epilog
Trotz allem haben wir wieder eine Kreuzfahrt gebucht. Aber dieses Mal ist es die klassische Überfahrt Hamburg – New York, schon immer mein Traum. Allein 7 reine Seetage. Und wieder ist es „Mein Schiff“, dieses Mal die No. 6, ganz neu, aber baugleich mit No. 5. Dieses Mal erhoffe ich mir ein anderes Publikum an Bord. Darunter vielleicht der ein oder andere hoffnungslose Romantiker, der nichts weiter möchte, als dem Meer beim Wellenmachen zuschauen.