„Es gibt Menschen, die rauchen nicht, trinken nicht, essen nur Gemüse und meiden auch sonst jeden Genuss. Zur Strafe werden sie 100 Jahre alt.“ Dieser Satz stammt von Reinhard Siemes. – Und es gibt Menschen, die saufen bis der Arzt kommt und werden immerhin 70 Jahre alt. So wie Reinhard Siemes. Zu seinem 75. Geburtstag erschien posthum sein großartiger Geschichtenband:
Er war genial. Er war grandios. Er war Texter bei DDB und GGK, den ultimativen Kürzeln für kreative Werbung in den 60 er und 70 er Jahren. Damals wurde die beste Reklame der Republik noch in Düsseldorf gemacht. Von der GGK (Gerstner Gredinger Kutter) stammt die Mutter aller Testimonial-Kampagnen:
Das erste von über 3.000 Jägermeister-Motiven zeigt GGK-Agentur-Chef Paul Gredinger.
1976 gründete Reinhard Siemes sein eigenes „Büro für Werbung“ in München. Er versprach:
Extrem teure Werbekonzeptionen für Kunden, die dummes Zeug wollen. Preisgünstige Werbekonzeptionen für Kunden, die den Verbrauchern eine Freude machen möchten.
Eine seiner besten Werbekonzeptionen ist die für den Türklinkenhersteller Franz Schneider aus Brakel (FSB). Bestes „Story Telling“, Jahrzehnte bevor dieser Begriff in Mode kam. Diese Klinkengeschichten im SPIEGEL – Drittelseiten, die Woche für Woche immer an derselben Stelle erschienen – brachten dem Unternehmen FSB den Ruf ein, der Verlag zu sein, der auch Türklinken herstellt. Dazu eine Menge Auszeichnungen. Reinhard Siemes war der Autor.
Reinhard Siemes war der deutsche Meister der Long Copy und der Short Story, der Geschichte, die das Produkt erzählt. Und genau so lesen sich auch die 56 Episoden aus seinem Buch „Mein Todfreund, der Alkohol“: wie die Kurzgeschichten einer Kampagne in eigener Sache.
Der Unterschied: Im „Todfreund“ geht es nicht um Anzeigen für ein neues Vollwaschmittel, sondern um die „Karriere“ eines waschechten Vollalkoholikers. Und die begann bereits 1963 in einem Düsseldorfer Reklamebüro. Siemes, in Wuppertal geboren und in Schwelm aufgewachsen, hatte in Berlin an der Meisterschule für Grafik, Druck und Werbung (später Hochschule der Künste) studiert. Die Persil-Agentur von Hubert Troost war seine erste Station als Texter. Hier verfasste Siemes (23) nicht nur seine ersten Reklamesprüche – in den „Ritterstuben“ nebenan lernte er auch seinen späteren Todfreund kennen: den Alkohol.
Die Folge meiner Erfolge war, dass ich bereits nach einem Monat unter einem selbst erzeugten Leidensdruck stand. (…) Nach zwei Gläsern Bier war ich geheilt von Krampf und Spannung.
Und als ihm zum neuen Henkel-Allzweckreiniger nichts mehr einfällt:
Ich machte einen letzten Versuch, indem ich gar nicht erst zurück in die Agentur ging, sondern fünf Biere lang sitzen blieb. Dann nahm ich meinen Stift und schrieb auf das Blatt den besoffenen Zweizeiler: „Mit CLIN wird alles sauber wie durch einen Zauber.“
Gekauft!
Der selbst auferlegte Leistungsdruck und die existentielle Angst vor dem Versagen begleiten Reinhard Siemes von nun an sein Leben lang. Kreative Höhenflüge wechseln sich ab mit katastrophalen Abstürzen. „Trockene“ Phasen enden schließlich im lebensbedrohlichen Delirium.
Sehr viel später, im Jahr 2009, ziemlich genau zwei Jahre vor seinem Tod, schreibt Reinhard Siemes einen überaus lesenswerten Artikel zum Thema „Süchte“ in der TAZ, der sich wie das Exposé zu seinem Buch liest:
Alle Süchte haben eins gemeinsam. Sie sind Flucht aus der Realität. (…) Entscheidend ist allein die Lebenssituation, in der wir uns befinden. Ist sie geprägt von Ängsten, Überforderung oder Hoffnungslosigkeit, erinnern wir uns an Momente, in denen die Realität und somit alle Probleme zurückgedrängt wurden. (…) Demzufolge sind alle Fluchtwege aus der Wirklichkeit zugleich Wege in eine Sucht. (…) Welche Sucht wir wählen, hängt wiederum von unserer Lebenssituation und der Art der Belastungen ab. Gegen Ängste, Stress und Hoffnungslosigkeit wirken am besten Alkohol und Tabletten.
Am liebsten in der Reihenfolge. Gegen ein Delirium tremens wird das Psychopharmakon Distraneurin Siemes’ Mittel der Wahl. Seine zweite Abhängigkeit.
Was „Mein Todfreund, der Alkohol“ von vielen Betroffenen-Biografien unterscheidet, ist vor allem Siemes’ Schreibkunst, die ohne jede Wehleidigkeit und Selbstgefälligkeit auskommt, dafür mit hinreißendem Humor und beißender Ironie aufwartet. Vor allem gegen die selbsternannten Retter der Alkoholiker. Von co-abhängigen Partnerinnen über klugscheißende Klinikärzte bis zu den Moralaposteln der Anonymen Alkoholiker. Aber sein Buch ist auch ein gutes Stück deutscher Werbegeschichte – von GGK bis ADC, von IBM bis FSB. Und von einzigartigen Kollegen und kleinkarierten Neidern, wie sie in derart großer Zahl und Ausprägung in wohl kaum einer anderen Branche vorkommen.
Siemes selbst war von 1984-86 Präsident des Art Directors Club (ADC) und wurde 2010 Ehrenmitglied für sein Lebenswerk – in einer Reihe mit Prominenten wie Vico von Bülow, Helmut Newton, Peter Lindbergh, Rudolf Augstein, Robert Gernhardt oder Christoph Schlingensief und Werbe-Ikonen wie Paul Gredinger, Helmut Krone, Walter Lürzer, Konstantin Jacoby, Michael Schirner oder Jean-Remy von Matt.
Faustische Dialoge
Reinhard Siemes war aber nicht nur ein ausgezeichneter Reklametexter, sondern auch eine herausragender Kolumnist, u.a. für den Berliner Tagesspiegel. Dessen Herausgeber Sebastian Turner, als Chef der Werbeagentur Scholz & Friends u.a. für die Wiederbelebung der FAZ-Kampagne „Dahinter steckt immer ein kluger Kopf“ sowie den Baden-Württemberg-Slogan „Wir können alles außer Hochdeutsch“ verantwortlich, kümmerte sich um das Buch-Manuskript von Reinhard Siemes, das er seiner langjährigen Lebensgefährtin, der Slowenin Ika Bratuscha, hinterlassen hatte, die auch das Buch-Cover gestaltete und die Fotos beisteuerte. Dem geschätzten Stuttgarter Verlag avedition ist seine Veröffentlichung zu danken.
Die Kapitel sind nicht chronologisch geordnet, sondern springen zwischen den Zeiten (von 1960 bis 2010) immer wieder hin und her. Eine gelungene dramaturgische Idee, die das Buch noch abwechslungsreicher macht. Ebenso wie die „faustischen“ Dialoge zwischen Siemes und seinem Todfreund, der am Ende natürlich niemand anders ist als er selbst. „Seine“ (von Ika Bratuscha verfasste) letzte Anzeige erschien in der Süddeutschen Zeitung: