Durch „New Blood“ von Peter Gabriel bin ich auf Anne Sexton gestoßen, die ich ohne dieses Album wohl nie kennengelernt hätte. Dabei war ich der Frau schon auf „So“ begegnet …

Mein ewiger Lieblingssong von Peter Gabriel stammt von diesem großartigen Album aus dem Jahr 1984: „Mercy Street“. Aber erst jetzt, bei der Wiederveröffentlichung von „Mercy Street“ auf „New Blood“, mache ich mir die Mühe, die Lyrics im Internet aufzurufen. Ein wunderbarer Text:

Looking down on empty streets, all she can see

Are the dreams all made solid

Are the dreams made real

All of the buildings, all of those cars

Were once just a dream

In somebody´s head

„She“, das war keine fiktive Person, von der sich Peter Gabriel inspirieren ließ, sondern eine amerikanische Dichterin, der er seinen Song widmete. „For Anne Sexton“, ein kurzer Hinweis am Anfang des Textes. Ich folge ihm. Und finde eine faszinierende Frau.

Anne Gray Harvey wird am 9. November 1928 in Newton, Massachusetts, einem Vorort von Boston geboren. Sie besucht eine Mädchen-Internat in Boston. Hier schreibt sie ihre ersten Gedichte. Nach dem College arbeitet sie als Model, brennt mit „Kayo“ durch, dem Sohn einer wohlhabenden Bostoner Familie (bürgerlich Alfred Muller Sexton II.), heiratet ihn und bekommt zwei Töchter. 1956, ein Jahr nach der Geburt ihrer zweiten Tochter, ist sie das erste Mal in der Psychiatrie; einen Tag vor ihrem 29. Geburtstag unternimmt sie ihren ersten Selbstmordversuch.

Nowhere in the corridors of pale green and grey

Nowhere in the suburbs in the cold light of day

There in the midst of it so alive and alone

Words support like bone

Ihr Therapeut Dr. Martin Orne ermutigt die depressive Dichterin zum Schreiben und 1960 erscheint Anne Sextons erstes Buch „To Bedlam and Part Way Back“. Sie besucht das Bostoner Lyrikseminar von Robert Lowell und lernt Sylvia Plath kennen. Beide gehören zu einer literarischen Richtung, die sich „Confessional Poets“ nennt und sehr (für manche all zu sehr) persönliche Themen literarisch verarbeitet. Einigen Kritikern ist diese Bekenntnisliteratur viel zu privat, zu persönlich, zu intim. Anne Sexton versteht ihre Gedichte in Anlehnung an Franz Kafka hingegen als „eine Axt für das gefrorene Meer in uns“.

Dreaming of mercy street, wear your inside out

Dreaming of mercy in your daddy´s arms again

Dreaming of mercy street swear they moved that sign

Dreaming of mercy in your daddy´s arms

Der Verdacht auf sexuellen Missbrauch durch ihren geliebten Vater gilt als Ursache für Anne Sextons seelisches Leiden, das sie über das Schreiben kompensiert.

Confessing all the secret things in the warm velvet box

To the priest – he´s the doctor, he can handle the shocks

In der deutschsprachigen Literatur verkörpert Ingeborg Bachmann in den 60er Jahren diesen Typus der frühen Feministin, die noch ohne die Spießigkeit der späteren Emanzipationsbewegung auskommt. In Europa weitgehend unbeachtet wird Anne Sexton in den U.S.A. ein Star. 1967 erhält sie den begehrten Pulitzer-Preis für ihren Gedichtband „Live or die“. Die Todessehnsucht bleibt ihr immer wiederkehrendes poetisches Motiv.

Während alle bisherigen Zitate aus dem Song „Mercy Street“ von Peter Gabriel stammen, ist der nun folgende Text ein Auszug aus dem Gedicht von Anne Sexton, das Peter Gabriel als Vorlage für seinen Song diente: „45 Mercy Street“.

I walk in a yellow dress

and a white pocketbook stuffed with cigarettes,

enough pills, my wallet, my keys,

and being twenty-eight, or is it forty-five?

I walk. I walk.

I hold matches at street signs

for it is dark,

as dark as the leathery dead

and I have lost my green Ford,

my house in the suburbs,

two little kids

sucked up like pollen by the bee in me

and a husband

who has wiped off his eyes

in order not to see my inside out

and I am walking and looking

and this is no dream

just my oily life

where the people are alibis

and the street is unfindable for an

entire lifetime.

Der Titel eines ihrer letzten Bücher lautet „The awful rowing toward god“. Mitte 40 wendet sich Anne Sexton auf eine merkwürdige Weise Gott zu. Vater -> Gott -> Gott Vater. Peter Gabriel verarbeitet in seinem Song auch diese letzte Phase im Leben von Anne Sexton:

Let´s take the boat out, wait until darkness

Let´s take the boat out, wait until darkness comes

Anne, with her father ist out in the boat

Riding the water, rinding the waves on the sea.

Am 4. Oktober 1974 fährt Anne Sexton ihren Wagen in die Garage, schließt das Tor und lässt den Motor laufen. Sie trägt den Pelzmantel ihrer Mutter. Es ist ihr fünfter Selbstmordversuch. Er gelingt.